•22. August 2011 •
Hamburger sind Weltklasse, wenn es ums Anfeuern geht. Das weiß jeder. Also jeder, der dort schon mal Marathon gelaufen ist oder einen Triathlon absolviert hat. Seit gestern weiß ich, dass sie auch Weltklasse im Flunkern sind – oder sagt man da oben schon „Seemannsgarn spinnen“? Natürlich nur, um zu motivieren. Klar.
Erster Teil des Motivationsflunkerns bei der Pasta-Party: „Ach, die einzige Steigung ist die Köhlbrandbrücke hoch. Danach kommen zwar noch die Harburger Berge, aber die haben den Namen nicht verdient. Sonst ist alles flach.“ Sagte Lars, natürlich Hamburger – und natürlich Nichtradler. Aber: Ziel erreicht. Ich war beruhigt. Zumindest bis zum nächsten Morgen. Dann wurde ich wieder nervös und Lust auf dieses Radrennen hatte ich sowieso gar nicht, der Liebste auch nicht. Aber einfach kneifen und „nur“ einen schönen Tag in Hamburg verbringen? Nee, das kann ich nicht. Spätestens, wenn ich die ersten Radler gesehen hätte, wäre ich sauer auf mich gewesen.
Also Lieblingsradelsachen angezogen, die nigelnagelneuen Handschuhe auch (Anfängerfehler, ich weiß) – und ab in den Startbereich. Irgendwann fiel der Startschuss für unseren Block und wir rollten los. Und wir rollten schnell los. Verdammt schnell. 34 km/h zeigte meine Uhr. Tempo raus, Körner sparen für die einzige Erhebung. Brücke hoch und mit Tempo runtersausen – herrlich. „So kann es weitergehen.“ Dachte ich da noch. Kurze Hochrechnung: Wenn wir weiter in dem Tempo fahren, ist eine Zeit um die 3:30 drin, selbst wenn man die normale Ermüdung einrechnet … Doch dann mutierte Speedy Gonzalez – also ich – zur Schnecke. Denn was ich nicht wusste, ich Streckenprofilignorantin: Nach der Brücke kam ein Anstieg, dann noch einer, noch einer und noch einer. Alle nicht steil, kaum fürs Auge sichtbar, aber doch insgesamt 10 Kilometer lang.
Kilometer 31: „Wenn das nicht bald aufhört, steige ich aus!“ Nette Hamburgerin vom Straßenrand: „Nee, nee, gleich geht’s nur noch bergab!“ Es ging auch kurz bergab. Aber danach ging es auch wieder bergauf. Und noch mal. Und noch mal. An jedem Anstieg habe ich den Hamburger Motivationskünstlern geglaubt – und jedes „Du siehst gut aus!“, „Gleich geht’s nur noch bergab!“ oder „Fantastisch – du bist gleich oben!“ mit einem strahlenden Lächeln belohnt. Irgendwann ging mein Strahlelächeln in gequältes Grinsen (oder Zähnefletschen) über. Die nigelnagelneuen Handschuhe scheuerten, die Lieblingshose auch, der Nacken-Schulter-Bereich war einfach nur noch ein pochender Schmerzklumpen. Die Fluchrate stieg, jeder Hügel bekam sein Fett weg. „Sch… die Wand an, hört das denn nie auf?!?“ war, glaube ich, dabei noch am harmlosesten. Vorher habe ich immer gehofft, dass ich bloß keinen Platten habe – jetzt guckte ich jeden, der am Straßenrand sein Rad flickte oder mit kaputtem Rad auf den Besenwagen wartete, fast neidvoll an.
Kilometer 62 – Verpflegungsstation. „Super, du hast mehr als die Hälfte hinter dir. Jetzt geht’s nur noch bergab!“, so der nette ältere Herr, der mein Rad hielt, während ich mir in Nullkommanix irgendwelche Getränke in den Hals schüttete. Mein skeptisches „Wirklich?“ wurde durch heftiges Kopfnicken und „Ja, versprochen!“ beantwortet. Geglaubt habe ich ihm nicht (mehr). Dann ein Motivationsschub der besonderen Art: Ich sah eine Frau aus meinem Startblock und dachte: „Hey, wenn ich die hinter mir lasse, werde ich zumindest nicht Letzte!“ Rad schnappen und losstrampeln war eins … Bis zum nächsten Anstieg, an dem sie an mir vorbeizog. Hmpf … Irgendwo bei Kilometer 70 habe ich diese scheuernden Handschuhe entsorgt. Leider nur in Schatzis Trikottasche. So ein wütendes Wegschleudern hätte besser gepasst. Durfte ich aber nicht, der Schatz ist einfach zu vernünftig – die Handschuhe kann man ja schließlich wieder einschicken. Die folgenden Kilometer habe ich laut geflucht, still vor mich hin gelitten, Gott (ja, ja – ich weiß, ich darf das nicht, aber das war mir zu dem Zeitpunkt so was von egal …) und meine Mama angefleht, dass das doch bitte, bitte, bitte gleich vorbei sein soll …
Kilometer 90 – ich mochte nicht mehr. Gar nicht mehr. Das habe ich auch allen gesagt. Den Straßen, den Menschen an der Straße, den Menschen auf der Straße, dem Schatz. Ob sie es hören wollten oder nicht. An der Leitplanke stand ein Radler. Ob er einen Platten hatte oder auch nur nicht mehr konnte? Mir egal, ich wollte mich einfach nur neben ihn setzen und mit ihm auf den Besenwagen warten … Game over. Doch dann – ein Zeichen, ein Zeichen – entdeckte ich wenige Hundert Meter vor mir die Frau, die ich auf jeden Fall hinter mir lassen wollte. Dass jetzt unheimliche Kräfte in mir wach wurden, wäre gelogen. Aber laaaaaangsam kamen wir näher, überholten – und … Die Frau hängte sich in meinen Windschatten. Aber glücklicherweise blieb sie da auch bis zum Ziel.
Überhaupt – das Ziel. Hamburger Motivationskunst vom Feinsten: Du siehst einen Zielbogen, strampelst wie wild los – „Is nich mehr weit!“ –, kommst näher und liest: „Noch 1 km!“ (Füge Schimpfwort deiner Wahl ein – je deftiger, desto näher am Original!)
Dann aber: Geschafft. Meine ersten 102,6 Kilometer überhaupt. Keine Freude, keine Glücksendorphine, nur Erleichterung, dass ich mich ins Ziel gebissen habe und nicht mal nur Vorletzte wurde. Meine erste Reaktion nach dem „Rennen“: NIE WIEDER!!! Heute fordere ich Revanche von diesen nicht existierenden Hamburger Bergen. Ihr seht mich nächstes Jahr wieder – und dann stampfe ich euch in Grund und Boden. Mit Schmackes in den Beinen, mit Nacken- und Schultermuskeln aus Stahl und mit Dauerlächeln. Ihr werdet euch noch wundern. Jawollja!
Ups, ist wohl etwas länger geworden. Aber es waren 102,6 km! Da darf das so sein. Und warum ich das überhaupt in unseren Läuferblog für Stockholm schreibe? Ganz einfach: für mich als Erinnerung an diesen Höllenritt und für Kadda als Motivationsspritze. Denn – hey, in Stockholm gibt’s keine Berge. Wirklich nicht! Und wenn, dann geht’s danach nur noch bergab. Ich schwöre! Und: Ich hoffe, dass ich dir eine so gute Begleiterin in Stockholm bin, wie Holger es für mich in Hamburg war.
Veröffentlicht in Allgemein